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Wie der Bundestag Kinder von psychisch kranken Eltern unterstützen will

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DEMO: Der Deutsche Bundestag will Kinder mit psychisch oder suchtkranken Eltern besser unterstützen. Wie viele Kinder sind davon betroffen?

Ulrike Bahr: Expert*innen schätzen, dass in Deutschland jedes vierte Kind betroffen ist. Genau beziffern lässt sich die Zahl nicht, es gibt eine hohe Dunkelziffer. Die Corona-Pandemie hat das Problem noch einmal verschärft. Der Bundestag befasst sich aber schon seit 2017 damit.

Wo sehen Sie Lücken im bisherigen Hilfesystem?

Eine große Herausforderung ist es, an die Betroffenen überhaupt heranzukommen. Kinder und Jugendliche, die damit aufwachsen, dass ihre Eltern psychische Probleme oder Suchterkrankungen haben, kümmern sich oft um ihre Familie. Sie schämen sich häufig dafür und wollen das gar nicht groß preisgeben. Das macht es schwer, die richtige Hilfe anzubieten.

Deshalb ist es wichtig, dass diejenigen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, sensibilisiert werden: Welche Anzeichen gibt es für solche Probleme, wie kann man sensibel darauf reagieren und das ansprechen? Wir müssen Themen wie Alkoholsucht oder Depression entstigmatisieren, also aus der Tabu-Ecke herausholen.

Und wir brauchen Anlaufstellen, wo die Kinder und Jugendlichen sich unkompliziert hinwenden können, ohne dass erst große Anträge geschrieben werden müssen. Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz haben wir hier schon wichtige Reformen umgesetzt. Damit verbunden war ein Paradigmenwechsel: Der Staat soll den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe gegenüberstehen und ihnen niedrigschwellig Möglichkeiten bieten, Gesprächspartner*innen und Hilfe zu finden.

Das sind hehre Ansprüche – wie sieht es mit der Umsetzung aus?

Bisher noch regional sehr unterschiedlich. Wir haben zum Beispiel im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz einen Paragrafen geschaffen, der es ermöglicht, dass Hilfe in akuten Notsituationen über Beratungsstellen auch ohne vorherigen Antrag vermittelt werden kann. Oft ist das aber gar nicht bekannt. Eine Abfrage des Erziehungshilfeverbandes AFET, in dem auch viele Jugendämter vertreten sind, hat ergeben, dass erst etwa zehn Prozent der Jugendämter entsprechende Vereinbarungen geschlossen haben. Es gibt Leuchtturm-Kommunen, wo besonders engagierte und gut informierte Leute arbeiten. Das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure – wie Kommunen, Ärzteschaft und Träger – funktioniert nicht überall gut. Unser Ziel ist es, dass wir das flächendeckend in der ganzen Republik hinbekommen.

Es ist ungewöhnlich, dass Regierung und Opposition zusammen einen Antrag einbringen. Jetzt haben die Ampel-Fraktionen und CDU/CSU einen gemeinsamen Entwurf vorgelegt, um die Prävention zu stärken. Wie ist das zustande gekommen?

Als wir 2017 begonnen haben, das Thema anzugehen, gab es noch die Große Koalition. Schon damals waren wir der Auffassung, dass wir das parteiübergreifend breit aufstellen müssen. Darauf haben auch die Expert*innen wert gelegt, mit denen wir zusammengearbeitet haben. Es ist uns damals gelungen, einen interfraktionellen Antrag einzubringen, an dem die Grünen mitgearbeitet haben, die damals noch in der Opposition waren. Ziel des Antrages war es, eine Expert*innenkommission einzurichten. Diese hat mittlerweile ihre Arbeit gemacht und 19 Empfehlungen erarbeitet. Nun liegt der Ball wieder bei uns, dem Deutschen Bundestag. Für uns war klar, dass wir auch jetzt wieder die CDU/CSU-Fraktion wieder dabeihaben wollen.

Was soll der nun vorgelegte Antrag ändern?

Er greift einige Empfehlungen der Kommission auf. Ein zentraler Punkt: Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Handlungskonzept zu erstellen, dass auf kommunaler Ebene wirkt. Das kann der Bund aber nicht alleine machen. Da müssen die Länder mitspielen und die Kommunen, die für die Jugendhilfe zuständig sind. Das Gesundheitssystem – teilweise auf Länderebene angesiedelt – und die Versicherungsträger müssen auch dabei sein. Das Ziel ist ein qualitätsgesichertes Hilfesystem, in dem verschiedene Akteur*innen multiprofessionell vor Ort zusammenarbeiten. Das Ganze soll rechtskreisübergreifend funktionieren.

Sie erwähnten schon, dass die Kommunen für die Kinder- und Jugendhilfe zuständig sind. Erfahrungsgemäß sind Bürgermeister oder Landrätinnen nicht immer begeistert, wenn der Bund ihnen in ihre Arbeit reinreden will. Was haben die Kommunen von der Initiative des Bundestages?

Erstens sparen sie viel Geld, wenn wir die Prävention gemeinsam verbessern. Viele betroffene Kinder und Jugendliche sind in teuren stationären Einrichtungen untergebracht. Die Unterbringung ist nötig, wenn das sprichwörtliche Kind schon in den Brunnen gefallen ist und der Lebensweg nicht mehr in geordneten Bahnen läuft. Und die stationären Einrichtungen der Jugendhilfe werden letztlich von den Kommunen bezahlt.

Für die Kinder und Jugendlichen ist es besser, wenn es gar nicht erst so weit kommt. Wir wollen die Prävention stärken, indem wir einen verbindlichen Handlungsraum schaffen, wo alle Akteure zusammenarbeiten müssen. Im besten Fall schaffen wir eine Win-Win-Situation, in der die Kommunen profitieren, die Kinder und Jugendlichen, aber auch ihre Familien.

Sie sprechen viel von Zusammenarbeit – können Sie ein Beispiel nennen?

Viele Kinder kommen mit der Jugendhilfe in Kontakt, nehmen an einer Beziehungsberatung teil oder besuchen Jugendeinrichtungen. Wenn dann herauskommt, dass gesundheitliche Probleme eine Rolle spielen, ist es sinnvoll, die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ins Boot zu holen. Die bietet Präventionsprogramme an. Es kann aber vorkommen, dass die Leute von der GKV sagen: Wir sind nicht zuständig, denn wir haben mit Jugendhilfe nichts zu tun. Da wollen wir ansetzen und erreichen, dass die verschiedenen Ebenen besser ineinandergreifen.

Das heißt …?

Letztendlich müssen Schule, Kita, Jugendamt, aber auch Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen zusammenarbeiten können, sodass ein „Case Management“ entsteht. Im Mittelpunkt soll die Frage stehen, was ein Kind jetzt konkret braucht – und nicht, in welchem Rechtskreis sich das bewegt und ob dafür jetzt die GKV, die Jugendhilfe oder sonst jemand aufkommen muss.

Manchmal hilft schon ein Gespräch weiter, mal braucht es therapeutische Maßnahmen für das Kind selbst oder für seine Eltern. Im Moment ist es oft so, dass Betroffene zur Krankenkasse geschickt werden mit der Aussage, sie zahlt ihnen dieses oder jenes. Und die Krankenkasse sagt: Das muss das Jugendamt zahlen. Dieses Hilfesystem ist für Betroffene schwer zu durchblicken. Und wir reden von Menschen, die ohnehin mit psychischen Problemen belastet sind.

Im Antrag heißt es auch: Der Bund soll Erkenntnisse bündeln und so eine Basis schaffen, um gut funktionierende Modellprojekte in einzelnen Regionen in die Fläche zu bringen. Welche guten Ansätze gibt es schon in den Kommunen?

Ein Erfolgsmodell sind die sogenannten Frühen Hilfen. Das sind niedrigschwellige Angebote für Eltern ab der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr. Die Berater*innen gehen schon vor der Geburt auf die Eltern zu, bieten im Krankenhaus Hilfe an und unterstützen Familien in belasteten Lebenslagen. Hier arbeiten zum Beispiel Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen und der Schwangerschaftsberatung zusammen. In vielen Kommunen bricht dieses System aber mit dem dritten Geburtstag des Kindes ab. Wir wünschen uns, dass es weitergeht und auch Eltern von älteren Kindern eine engmaschige Betreuung finden, an die sie sich wenden können, wenn sie verunsichert sind.

Die kommunalen Spitzenverbände erwarten, dass die Haushalte der Städte und Gemeinden in den nächsten Jahren dauerhaft in Schieflage geraten. Befürchten Sie, dass ausgerechnet jetzt an der Kinder- und Jugendhilfe gespart werden könnte?

Ja, ich befürchte das schon. Dabei ist die Kinder- und Jugendhilfe eine Pflichtaufgabe, die auch mit Rechtsansprüchen verbunden ist. Trotzdem wird gerade Prävention von vielen als freiwillige Leistung wahrgenommen, wo man den Rotstift ansetzen kann. Präventionsarbeit hat außerdem das Problem, dass sie erst einmal Geld kostet, die Einsparungen aber erst in der Zukunft sichtbar werden. Viele Expert*innen aus der Kinder- und Jugendhilfe erzählen mir, dass die Kosten explosiv gestiegen sind. Denn viele Kinder und Familien haben durch die Belastungen der Corona-Pandemie mehr Probleme als vorher, und deshalb müssen jetzt teure Maßnahmen ergriffen werden. Das darf aber nicht dazu führen, dass an der Prävention gespart wird.

Ulrike Bahr ist Vorsitzende im Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

 

Weiterführende Links:

Interview mit der SPD-Abgeordneten Ulrike Bahr
08. Juli 2024
Carl-Friedrich Höck
Ulrike Bahr ist die zuständige Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion.
Jedes vierte Kind hat ein Elternteil, das psychisch krank oder süchtig ist. Vier Bundestagsfraktionen haben einen gemeinsamen Antrag vorgelegt, um die Prävention auf kommunaler Ebene zu stärken. Die SPD-Abgeordnete Ulrike Bahr erklärt die Pläne.

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